Wahrheit ist kein Wunschkonzert
→ Sie spielt uns oft überraschende Melodien. Mein Weg als Naturwissenschaftler und Christ zur 6-Tage-Schöpfung – und wieder zurück.
Es begann im Frühjahr 1992 während meines Physikstudiums an der Universität Oldenburg. In dem Seminar zur Thermodynamik-Vorlesung hatten wir als Übungsaufgabe mit einer entsprechenden Formel näherungsweise auszurechnen, wie alt das Universum ist. Ich meldete mich und sagte, dass man das so gar nicht rechnen dürfe, weil die Voraussetzungen für die Anwendung der Formel nicht erfüllt seien. Meine Aussage wurde allgemein zur Kenntnis genommen. Nach der Veranstaltung sprach mich der Dozent an, ob ich am nächsten Tag mal zu ihm in das Büro kommen könne. Verdutzt stimmte ich zu - mit dem etwas mulmigen Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
Meine Befürchtungen waren allerdings nicht gerechtfertigt. In dem Gespräch am nächsten Tag sprachen wir nochmals über die Formel und kamen dabei in ein allgemeines Gespräch über die Entwicklung des Universums und des Lebens auf der Erde. Es stellte sich ziemlich schnell heraus, dass der Dozent ein gläubiger Christ ist und doch tatsächlich an den Schöpfungsbericht in der Bibel glaubt. Das war für mich unerhört! Ist das möglich, dass es heutzutage noch Menschen gibt, die das glauben, was in der Bibel steht? Ja, die sogar den Schöpfungsbericht ernst nehmen? Ich komme aus einem mehr oder weniger atheistischen Elternhaus und bin bis auf die Konfirmationszeit nicht christlich sozialisiert worden. Ich erinnere mich noch, wie mein Schulfreund von einem Schüleraustausch aus Amerika wiederkam und mir berichtete, dass die da drüben doch tatsächlich noch an Adam und Eva glauben. Das kann nicht wahr sein, dachte ich. Wir waren uns einig, dass das das Ende der Zivilisation und des wissenschaftlichen Fortschritts sei, wenn dort nicht aufgeklärt würde. Und jetzt, einige Jahre später, saß ich also bei diesem Physikdozenten im Büro und musste feststellen, dass es auch in Deutschland noch diesen Glauben gibt - und das bei einem studierten und hochgebildeten Naturwissenschaftler. Ich wollte es genauer wissen. Wir trafen uns in der Folge häufiger und der Physiker diskutierte mit mir das Für und Wider der Evolutionstheorie. Er gab mir auch schriftliches Material von der Studiengemeinschaft Wort + Wissen, ein Verein christlicher (Natur-)Wissenschaftler, die aktiv „Schöpfungsforschung“ betreiben. Ich beschäftigte mich damit und argumentierte heftig gegen diese mir bis dahin völlig fremde Weltsicht.
Aber das Thema ließ mich nicht los. Nach einigen Monaten musste ich mir eingestehen, dass die Höherentwicklung und Abstammung aller Lebewesen von gemeinsamen Vorfahren nicht so bewiesen ist, wie ich es bislang immer dachte und es auch in der Schule vermittelt bekommen hatte. Ich sah nun, dass Kritik am gängigen Weltbild durchaus berechtigt ist und kam sogar dahin, dass ich für mich persönlich die Schöpfungssicht für wahrscheinlicher hielt.
Dadurch wurde ich offen für den christlichen Glauben. Ich kaufte mir mehrere Bibeln in unterschiedlichen Übersetzungen und begann darin zu lesen. Zuvor hatte mich die vermeintliche Unglaubwürdigkeit des Schöpfungsberichtes davon abgehalten, die Bibel ernst zu nehmen, denn ich fragte mich: „Wenn schon die ersten Seiten nicht wahr sind, wieso soll dann der Rest stimmen?“
Zu dieser Zeit las ich regelmäßig den Spiegel und darin viele Artikel, die die Entwicklungen in unserer Gesellschaft kritisch darstellten. Ich verglich dies mit dem, was ich nun im Neuen Testament las. Plötzlich wurde mir klar, dass die Charakterisierung der Menschen durch Jesus und die Ankündigung der gesellschaftlichen Entwicklungen, die Paulus bereits vor 2000 Jahren machte, zutreffend sind und den Kern des Übels aufzeigen. Wir Menschen haben ein Sündenproblem! Ach, könnten wir doch nur so leben, wie Jesus es in der Bergpredigt schildert!
Die ganze Sache rumorte weiter in mir. Es trieb mich in einen christlichen Buchladen. Mein Blick fiel auf ein Buch mit dem provokanten Titel Pardon, ich bin Christ. Meine Argumente für den Glauben von dem englischen Literaturprofessor C. S. Lewis. Es fesselte mich so sehr, dass ich es noch am gleichen Abend nahezu ganz durchlas. Hier argumentierte ein brillanter Denker so überzeugend für den christlichen Glauben, dass ich am Ende tatsächlich vor meinem Bett auf die Knie gegangen bin und mit Tränen in den Augen zu Gott betete. Ich hatte auch den inneren Drang, Gott all die Sünden zu bekennen, an die ich mich irgendwie erinnern konnte. Ich schloss mein Gebet erleichtert mit dem Entschluss, Jesus von nun an den Herrn meines Lebens sein zu lassen.
Meine damalige Freundin und heutige Frau erzählte mir später, dass unsere Freundschaft auf der Kippe stand, weil ich kein Christ war. Sie hatte daher angefangen, für mich zu Gott zu beten. Und Gott hat ihr Gebet erhört!
Mein neu gewonnener Glaube hat das Physik-Studium in den folgenden Jahren noch spannender gemacht, als es sowieso schon war. Ich habe nämlich angefangen, das Gelernte in Beziehung zu dem zu setzen, was ich in der Bibel las. So hat mir beispielsweise die Quantenphysik geholfen, das gleichzeitige Gottsein und Menschsein von Jesus besser zu verstehen. Durch die Relativitätstheorie und die String-Theorie mit ihren höheren Dimensionen wurden mir die Wundertaten von Jesus nicht nur glaubwürdig sondern auch denkmöglich.
Auch nach dem Abschluss meines Studiums (1996) und meiner Promotion (2000) beschäftigte ich mich weiter mit dem Thema Schöpfung und Evolution, las allerdings fast nur Literatur aus dem eigenen „Lager“, d. h. Literatur, die davon ausging, dass die Schöpfung in buchstäblich sechs Tagen erfolgte, und besuchte entsprechende Konferenzen. Später begann ich selbst Vorträge zu halten, in denen ich diese Position vertrat. Die ganze Zeit über hatte ich einen großen Wunsch, für den ich betete: Ich hegte die Hoffnung, vielleicht mithilfe der Relativitätstheorie, eine Lösung für das Problem der gemessenen hohen Alter von Universum und Erde zu finden - Jahrmilliarden, die sich z. B. in der Kosmologie und bei radiometrischen Altersbestimmungen ergeben und für die es im Modell einer jungen Schöpfung vor etwa sechs- bis zehntausend Jahren (sogenannter Junge-Erde-Kreationismus) bislang keine befriedigenden Antworten gibt. Gott erhörte meine Gebete in dieser Frage später - aber auf eine ganz andere Weise, als ich es mir vorgestellt hatte.
Im Jahr 2008 stieß ich bei der Vorbereitung eines neuen Vortrags auf Material von Reasons to believe, einer amerikanischen Organisation von Christen, die den sogenannten Alte-Erde-Kreationismus vertritt. Damit begann für mich eine neue Phase in der Auseinandersetzung mit dem Thema. Hugh Ross, der Gründer dieser Organisation, ist Physiker und Astronom. Für ihn steht fest, dass die physikalischen Altersbestimmungen korrekt sind und wir unsere Interpretation der Bibel korrigieren müssen. Der Berufsstand der Astronomen verfügt in gewisser Weise über „Zeitmaschinen“, mit denen man direkt in die Vergangenheit gucken kann: Teleskope. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein Blick auf unsere Sonne zeigt uns nicht die Sonne, wie sie jetzt gerade ist, sondern wie sie vor circa 8 Minuten aussah. So lange braucht das Licht von der Sonne nämlich, bis es die Erde erreicht. Mit modernen Teleskopen kann man fast bis zum Beginn des Weltalls zurückschauen. Die Galaxien sehen „dort“ - so weit in der Vergangenheit - tatsächlich noch anders, jünger aus. Durch die Analyse der mit den Teleskopen beobachteten Lichtspektren verschiedener Sterne und Galaxien hat man herausgefunden, dass die Zerfallskonstanten radioaktiver Elemente und die Lichtgeschwindigkeit in der Vergangenheit immer gleich gewesen sind. Damit ist gleichzeitig klar, dass die radiometrischen Altersbestimmungen von Gesteinen der Erde stimmen und nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden können, wie ich es bislang als Junge-Erde-Kreationist getan habe. Damit kann die Erde nicht erst im Jahr 4004 v. Chr. erschaffen worden sein (Berechnung von Bischof Ussher im 17. Jahrhundert anhand biblischer Stammbäume). Andere Altersbestimmungsmethoden erschließen ebenfalls eine Vergangenheit, die es nach Ussher nicht geben dürfte: Der Hohenheimer Jahrringkalender (Zählung von Baumringen) reicht über 14000 Jahre in die Vergangenheit zurück. Bohrungen in Grönland und der Antarktis haben die typischen bekannten jahreszeitlichen Muster von Schneefällen auch aus der Vergangenheit ans Licht gebracht. Die 3 km tiefen Eisbohrkerne zeigen den Jahreszeitenwechsel von rund 740000 Jahren. Diese konnten durch entsprechende Staubeinschlüsse auch noch mit Impakt-Ereignissen und bekannten Vulkanausbrüchen korreliert werden, wobei sich eine hervorragende Übereinstimmung mit radiometrischen Datierungen dieser Ereignisse ergab. Und dann gibt es auch noch die Altersbestimmung über Jahresringe bei Korallenriffen. Hier muss ich etwas ausholen: Durch die Gravitationswirkung des Mondes verringert dieser langsam die Rotation der Erde. Die Erde rotierte früher schneller, ein Tag hatte also weniger als 24 Stunden. Damit hatte ein Jahr in ferner Vergangenheit auch mehr Tage als heute. Wenn man den Effekt des Mondes auf die Erde zurückrechnet, so kommt man vor 400 Millionen Jahren auf eine Jahreslänge von 400 Tagen. Gemäß radiometrischer Altersbestimmung von Gesteinen müsste dies im Erdzeitalter des Devon gewesen sein. Das faszinierende ist nun, dass dies durch einfaches Auszählen von Ringen bei Korallen bestätigt wird! Korallen bilden einerseits Jahreswachstumsringe und andererseits auch Tageswachstumsringe. Und siehe da, Korallen aus dem Devon weisen tatsächlich 400 Tageswachstumsringe pro Jahr auf. Die Beweislast für ein hohes Alter der Erde ist enorm. Die vielen voneinander unabhängigen Methoden, die zu den selben Ergebnissen gelangen, alle als fehlerhaft hinzustellen, käme einer Verwerfung der gesamten Naturwissenschaft gleich.
Die Wissenschaftler um Ross schlagen daher vor, von einer „progressiven Schöpfung“ auszugehen, bei der die Lebewesen während sechs langer geologischer Perioden durch wiederholtes Eingreifen Gottes geschaffen wurden.
Eine aufregende Zeit begann für mich. Ich fing an, mir möglichst unvoreingenommen den aktuellen Kenntnisstand der Naturwissenschaften anzuschauen. Und ich wollte nicht sofort dort stehen bleiben, wo Ross und seine Kollegen halt gemacht haben - die Ergebnisse der heutigen Astrophysik und Geologie wegen ihrer starken Beweiskraft zu akzeptieren, aber die Ergebnisse der modernen Biologie abzulehnen. So las ich auch aktuelle Bücher von Evolutionsbiologen. Glücklicherweise gibt es auch etliche Christen, die in der Evolutionsforschung und in der Genforschung arbeiten. Ich war gespannt, ob alle eine 6-Tage-Schöpfung vertreten, oder ob es auch andere gut begründete Auffassungen gibt.
So stieß ich auf Francis Collins, Chemiker und Mediziner, der im Bereich der Molekularbiologie und der Genetik geforscht hat. Er war Direktor des „Human Genome Project“, des amerikanischen staatlichen Projekts zur Sequenzierung (d. h. dem Auslesen) des gesamten menschlichen Erbguts, der DNA. Als überzeugter Christ präsentiert er in seinem Buch Gott und die Gene die Ergebnisse der modernen Genforschung und erläutert die Auswirkungen auf den christlichen Glauben. Und ich stieß auf den Christen und Biologen Darrel Falk, der in seinem Buch Coming to peace with science den aktuellen Kenntnisstand der Evolutionsforschung präsentiert. Ich las auch Kenneth Millers Finding Darwin's God. Als katholischer Christ und Biologie-Professor, der eines der bekanntesten Biologie-Schulbücher der USA geschrieben hat, diskutiert er ebenfalls die verschiedenen christlichen Standpunkte hinsichtlich der Ursprungsfrage und erläutert die gesicherten Fakten der Naturwissenschaften. Ferner las ich Artikel von dem jungen Genetiker und Biologie-Professor Dennis Venema. Er war für mich besonders interessant, weil er noch als Jugendlicher Evolution abgelehnt hat und sie aufgrund biologischer Forschungsergebnisse nun nicht länger leugnet. Was mir neu war, weil es zu der Zeit, als ich Junge-Erde-Kreationist wurde, auch noch nicht bekannt war, und was mich nun ziemlich überraschend traf, ist, dass eine gemeinsame Abstammung von Affen und Menschen heute nicht mehr ernsthaft geleugnet werden kann - aufgrund dessen, was man im Erbgut von Menschen und Tieren entdeckt hat. Ein Vergleich soll deutlich machen, was die Genforscher herausgefunden haben: Bücher aus Universitätsbibliotheken werden von vielen Generationen von Studenten immer wieder kopiert. Viele Bücher haben Alterserscheinungen wie zum Beispiel Stockflecken. Da die unterschiedlichen Exemplare in den verschiedenen Bibliotheken unseres Landes natürlich andere Flecken haben, könnte man leicht anhand einer Fotokopie, die ein Student besitzt, einen Rückschluss ziehen, wo er wohl studiert hat. Wenn nun von den Kopien wieder Kopien gemacht werden und unter Studenten zirkulieren, so kommen eventuell weitere Flecken oder Knickspuren hinzu. Ebenso wenn von diesen Kopien wieder Kopien gemacht werden und an andere Studenten weitergereicht werden und so fort. Durch diese unterschiedlichen Spuren könnte ein genauer „Stammbaum“ einer späteren Kopie aufgestellt werden. Nun zurück zur DNA: Vergleichbare Spuren finden sich nämlich in den Kopien des Erbgutes aller heutiger Lebewesen. Genau wie im Beispiel mit den Buchkopien ist darüber eine Abstammung nachweisbar. Die DNA vom Menschen und vom Schimpansen sind in den letzten Jahren von Naturwissenschaftlern komplett entziffert worden. Im Erbgut von Menschen und im Erbgut von Affen wurden beispielsweise unschädliche Überreste von Virusinfektionen gefunden, die durch sogenannte endogene Retroviren hervorgerufen wurden (eine Klasse von Viren, zu denen übrigens auch HIV, das AIDS-Virus, gehört). Es gibt viele verschiedene solcher Retroviren, die sich im Laufe der Zeit an zufälligen Stellen im Erbgut von Keimzellen platziert haben und deren inaktivierten und wirkungslosen Reste nun von Generation zu Generation weitergegeben werden. Bei der DNA-Analyse wurde nun festgestellt, dass Menschen und Schimpansen viele identische Virusreste an exakt den gleichen Stellen im Erbgut haben. Da es hunderttausende Stellen in der DNA gibt, an denen sich ein Virus bei einer Infektion zufällig platzieren kann, können diese Übereinstimmungen - noch dazu von vielen verschiedenen Infektionen - nicht ernsthaft anders gedeutet werden, als dass Menschen und Schimpansen einen gemeinsamen Vorfahren hatten, von dem diese gemeinsamen Spuren der Virusinfektionen stammen.
Die Gen-Analyse hat auch einen Defekt im Erbgut der Primaten ans Licht gebracht, durch den diese im Gegensatz zu anderen Säugetieren kein Vitamin C mehr selbst herstellen können. Der Gendefekt kam bei den Primaten dadurch zustande, dass ein Teilstück des Chromosoms 8 verloren ging. Die Bruchränder in der DNA sind bei allen Primaten, also auch bei den Menschen und den Menschenaffen, interessanterweise identisch. Dies bedeutet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass der Verlust des Chromosomenteilstückes einmalig geschah und zwar bei einem gemeinsamen Vorfahren aller Primaten. Ein weiteres Indiz für eine gemeinsame Abstammung ist ein bei Affen und Menschen defektes Hämoglobin-Gen, das exakt den gleichen Schaden aufweist. Die Reihe ließe sich mit Dutzenden weiterer Beispiele fortsetzen. Bis dahin, dass wir Menschen noch an gleicher Position wie Vögel ein Gen für die Produktion von Eigelb-Bestandteilen haben, das bei uns „Säugetieren“ natürlich nicht mehr aktiv und auch beschädigt ist.
Die Autoren, die ich gelesen habe, kommen zu dem Schluss, dass diese Indizien im Erbgut, die ich selbst als Naturwissenschaftler nur zu gut nachvollziehen kann, so eindeutig für eine gemeinsame Abstammung von Affen und Menschen sprechen, dass diese auch von Christen heute nicht mehr geleugnet werden sollte.
Damit kam ich nun in die unbequeme Situation, dass ich einerseits wohl meinen Frieden mit der Evolutionsanschauung schließen musste, aber dadurch andererseits viele Anfragen an meine mir lieb gewordene Bibelauslegung entstehen. Fragen und Probleme im Bibelverständnis, die mich doch vor fast zwei Jahrzehnten gerade davon abgehalten hatten, den christlichen Glauben überhaupt ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Es folgten nun auch viele mühsame Diskussionen mit bisherigen Weggefährten, die ich mir gerne erspart hätte. Seine Meinung zu ändern, an der so viele investierte Lebensjahre und Freundschaften hängen, ist nicht leicht. Ich wäre gerne der Vorzeige-Kreationist geblieben, der hoch im Ansehen bei vielen stand, deren Ansehen ich jetzt verloren habe. Aber meine wissenschaftliche Redlichkeit und Integrität verlangten, den neu gewonnenen Erkenntnissen in Hinblick auf das Alter der Erde und der Abstammung der Lebewesen Rechnung zu tragen.
Wahrheit ist eben kein Wunschkonzert. Ich akzeptierte Evolution und gab den Glauben an eine historisch geschehene 6-Tage-Schöpfung vor nicht mehr als einigen tausend Jahren auf. Damit gehöre ich doch jetzt tatsächlich selbst zu den Leuten, vor denen ich wegen der Konsequenzen für das Bibelverständnis und den Glauben immer gewarnt habe: Vertreter einer Theistischen Evolution oder besser ausgedrückt Schöpfung durch Evolution. Irgendwie eine Ironie des Schicksals.
Meine Frau, die selbst Naturwissenschaftlerin ist und den Wechsel des Standpunktes auch mit vollzogen hat, drängte mich: „Naturwissenschaft ist das eine. Du musst jetzt aber auch an die Bibel ran.“ Uns war klar, wenn die Evolution wahr ist, dann müssen wohl manche alte Ansichten aufgegeben werden und einige Bibelstellen jetzt anders gedeutet werden. Ich erhielt zu meinen Überlegungen kritische E-Mails von Freunden. Es fühlt sich komisch an, dass andere jetzt für einen beten, weil man „vom rechten Weg“ abgekommen sei, indem man das Wort Gottes in Zweifel ziehen würde. Aber tat ich das überhaupt? Ein „ganz oder gar nicht“ im wörtlichen Auslegen der Bibel zu fordern, wie ich es jetzt von vielen meiner Freunde hörte, entspricht jedenfalls auch nicht wirklich der bibeltreuen Praxis . Auch Junge-Erde-Kreationisten verstehen den Hinweis auf die „Säulen der Erde“ (1.Sam. 2,8) nicht wörtlich. Und dass die „Erde festgestellt“ ist „und sie steht“ (Ps. 119,90), wird auch nicht wörtlich genommen, sondern eher im übertragenen Sinn gedeutet. Ich musste unwillkürlich an Jesu Beispiel von dem Splitter im Auge des anderen und dem Balken im eigenen Auge denken. Außerdem reißen sich doch auch nicht alle Leute wirklich die Augen aus, die es nach dem Lesen der Bergpredigt eigentlich müssten. So wörtlich nimmt doch keiner die Bibel.
Ich begann, mir noch mal verschiedene Bibelstellen anzuschauen, die etwas über die Natur aussagen. Bibelstellen, die ich schon ein Dutzend mal gelesen habe. Seit meiner Bekehrung im Jahr 1992 las ich in fast jedem Jahr die Bibel komplett durch. Trotzdem entdeckte ich jetzt wieder Überraschendes. Zu gleicher Zeit stieß ich auf Bücher von Denis Lamoureux, einem promovierten Biologen und Theologen, der Professor in Kanada ist. Eines seiner Bücher hat den provokanten Titel I love Jesus and I accept Evolution. Lamoureux weist auf literarische Stilmittel in der biblischen Urgeschichte hin, die an sich schon von einem wörtlich-historischen Verständnis weg weisen. Ich beschloss, nach wie vor an der Wahrheit der Bibel festzuhalten, habe jetzt aber durch die Auseinandersetzung mit den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen mehr denn je begriffen, dass Gott offensichtlich zeitgebundene antike Vorstellungen bei den Verfassern der Heiligen Schrift gestattet hat, um eine nicht zeitgebundene Glaubensbotschaft zu vermitteln. Ich kann es nicht mehr anders verstehen, als dass das antike Weltbild sozusagen nur als Gefäß für das lebendige Wasser dient. Und mir wurde bewusst, dass ich bislang immer viel zu sehr auf das Gefäß geschaut habe statt auf seinen Inhalt. Nun fiel mir auf, dass selbst Jesus sich auf das Weltbild bzw. die „Naturwissenschaft“ seiner Generation herabgelassen hat, wie beispielhaft in Markus 4,31 deutlich wird. Für die Leute, zu denen Jesus sprach, war das Senfkorn der kleinste bekannte Samen. Heute wissen wir, dass beispielsweise Orchideensamen noch deutlich kleiner sind. Hat sich Jesus also geirrt, wenn er sagt, dass das Senfkorn kleiner ist als alle anderen Samen auf der Erde? Die Antwort ist, dass es hier nicht um naturwissenschaftliche Genauigkeit geht, sondern es kommt auf die Glaubensbotschaft an, die hier vermittelt wird. Daraus können wir gleichzeitig lernen, dass unser Gott sich an die Vorstellungswelt und das Wissen der ersten Hörer der jeweiligen biblischen Berichte anpasst. Wieso soll das beim Schöpfungsbericht, bei Beschreibungen der Beschaffenheit von Erde und Firmament, bei den Ursachen von Blitz und Donner bis hin zur Ursache von Krankheiten anders sein? Wer heute eine medizinische Behandlung einer Epilepsie mit Hinweis auf ihre rein dämonische Ursache unterlässt, gilt zu Recht als gefährlicher Fundamentalist.
Das 3-Stockwerke-Weltbild der Antike, bei dem Sonne, Mond und Sterne an einer Kuppel befestigt sind, kommt in vielen Bibelstellen deutlich zum Vorschein (Jos 10,12-13; Ps 19,4-6; Ps 119,90) . Auch Jesus benutzt dieses verbreitete Weltbild, wenn er in Mt 24,29 sagt: „und die Sterne werden vom Himmel fallen“. Oder auch Off 12,4: „und sein Schwanz zieht den dritten Teil der Sterne des Himmels fort, und er warf sie auf die Erde.“ Bis zur Neuzeit haben wohl die meisten jüdischen und christlichen Bibelleser solcherart Bibelstellen als zeitlos gültige Weltbeschreibung verstanden. Beispielsweise nannte Martin Luther in einer seiner Tischreden Kopernikus einen Narr, weil aus Josua 10,12 doch klar hervorginge, dass sich die Sonne bewegt und nicht die Erde. Auch der Mitstreiter von Luther, Philipp Melanchthon, äußerte sich in einem Brief ähnlich. Heute wissen wir natürlich, dass die Erde sich um die Sonne dreht, nicht anders herum - auch wenn es so aussieht. Es war von den Kirchen falsch , zu stark auf der naturwissenschaftlichen Bedeutung der Bibelstellen zu beharren. Die Naturwissenschaft hat sich weiter entwickelt und das antike Weltbild definitiv als falsch entlarvt.
Heute macht es mich traurig, dass ich die Glaubwürdigkeit der gesamten Bibel und damit auch des Evangeliums von der Errettung durch Jesus bislang immer an ein wörtlich-historisches Verständnis des Schöpfungsberichts gebunden habe. Mir wurde nun auf erschreckende Weise bewusst, dass man Gott damit wohl einen echten Bärendienst erweist. Wenn die Beweislage für eine gemeinsame Abstammung der Lebewesen bald so stark sein wird (und meines Erachtens nach ist sie es schon) wie die für das kopernikanische Weltbild (die Erde dreht sich um die Sonne, statt andersherum), dann haben mit dieser unseligen Glaubwürdigkeitsbedingung die Atheisten plötzlich aus dem Mund der Christen selbst die Legitimation erhalten, nicht an Gott glauben zu können, weil der Bibel damit nun insgesamt nicht mehr zu trauen sei.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass ich heute die offensichtlichen Probleme, die beim Vergleich von gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und biblischen Aussagen auftauchen, damit löse, dass ich feststelle: Die Bibel benutzt bewusst die Wissenschaft ihrer Zeit, um die ersten Hörer da abzuholen, wo sie stehen. Daher sind naturwissenschaftlich falsche Aussagen in der Bibel für mich kein Irrtum der Bibel, sondern haben Methode. Betreibe ich damit nun Bibelkritik? Nein, aber Auslegungskritik! Einem vierjährigen Kind, das fragt, wie die Babys entstehen, wird man auch nicht eine anatomisch und naturwissenschaftlich korrekte und vollständige Beschreibung geben. Man wird sich auf das Verständnisniveau des Kindes „herablassen“ und im Übrigen bewusst etwas von der ganzen Wahrheit weglassen, um das Kind nicht zu überfordern und vor den Kopf zu stoßen. Ich denke, dass Gott in der Bibel, der Botschaft an seine Kinder, genau so vorgegangen ist. Irgendwann werden die Kinder reif genug sein, die Wahrheit verkraften zu können. Und ich glaube, sie werden ihren Eltern dann keine Vorwürfe machen, dass ihre Fragen früher mit zu einfachen und nicht ganz korrekten Erklärungen beantwortet wurden.
Wenn Evolution funktioniert, ist Gott denn dann überhaupt noch als Schöpfer nötig? Darauf antworte ich entschieden mit Ja. Ich glaube an ein äußerst intelligentes Design der Naturgesetze durch Gott. So intelligent, dass Gottes Wille dadurch hervorgebracht wird. Es geht für mich gerade nicht darum, ob Gott geschaffen hat, sondern wie . Warum nutzt er beispielsweise natürliche Abläufe in der Erzeugung und dem Wachstum aller Menschen, anstatt jeden Menschen ex nihilo , also aus dem Nichts, erwachsen zu erschaffen? Wenn Gott dabei natürliche Prozesse nutzt, die auf Information in den Keimzellen plus dem Wirken von Naturgesetzen beruhen, warum sollte er nicht auch das Universum und das Leben durch die von ihm im Keim des Urknalls angelegten Naturgesetze (die sind meines Erachtens nach göttliche Information pur) geschaffen haben? Damit erscheint Gott für mich heute noch viel größer und intelligenter, als wenn er alles wie ein Magier einzeln aus dem Nichts erschafft, wie ich es früher geglaubt habe. Eine Uhr zu erfinden, deren Teile sich selbst richtig zusammensetzen, einfach durch Schütteln eines Beutels, in dem sie sich befinden (meinetwegen durch ausgeklügelte magnetische und mechanische Eigenschaften), erfordert jedenfalls einen deutlich intelligenteren Designer als für eine konventionelle Uhr erforderlich ist.
Eine große Frage bleibt noch am Schluss: Wie ist nun eigentlich der Tod einzuschätzen, wenn Gott durch Evolution geschaffen haben soll? Bei genauerem Lesen von 1.Mo 1 und 2 ist mir deutlich geworden, dass mein früheres Verständnis eigentlich sowieso zu kurz gegriffen hat. Ich habe den Eindruck, dass in der Bibel in erster Linie der geistliche Tod als Folge der Sünde gesehen wird - nicht vorrangig der körperliche Tod. Wäre der Tod des Körpers gemeint, so hätte Gott ja gelogen, als er Adam angekündigt hat, „denn an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben“ (1.Mo 2,17). Adam und Eva lebten doch noch etliche Jahre weiter. Auch setzt der Bibeltext meines Erachtens nach implizit voraus, dass Adam und Eva den Tod von Tieren bereits vor ihrem Sündenfall miterlebt haben. Wenn nämlich der Begriff Tod für sie noch gar keine Bedeutung hatte, hätten sie die Androhung des Todes für ihre Übertretung ja nicht verstehen können. Zu meinen, dass alles Böse und Schlechte erst nach dem Sündenfall von Adam und Eva in die Welt kam, ist auch unbiblisch, denn der böse Teufel war bereits da. Und mal ganz praktisch gesprochen: Wie sollte der Tod von Tieren (von Pflanzen ganz zu schweigen - die sollten Adam und Eva ja sogar essen) eigentlich ausgeschlossen werden? Da müsste Gott doch jeden Schritt und Tritt von Adam und Eva überwacht haben, damit nicht aus Versehen ein Insekt oder ein Regenwurm zertreten und damit getötet wurde. Der Tod wird in der Bibel zwar als „letzter Feind“ betrachtet, während er im Evolutionsgeschehen ein zwingendes Element für die Fortentwicklung ist. Aber Tod als Mittel zur Hervorbringung von neuem, verändertem Leben ist nicht alleine ein Element der Evolution, sondern auch das Kennzeichen von Gottes Evangelium. Leben wird geopfert, damit Andere leben können. Das ist die Bedeutung der Opfer im Alten Testament. Und das ist die Bedeutung des Todes von Jesus Christus. Damit ist die Evolution des Lebens auf unserem Planeten doch geradezu eine Prophetie auf Gottes Heilsplan mit der Welt. So fremd sind sich Evolution und christlicher Glaube also nicht.
Einer meiner Freunde schrieb mir am Ende unserer Diskussion: „Es ist offensichtlich geworden, dass wir in wesentlichen Punkten nicht übereinstimmen. Ich achte Dich als Bruder im Herrn und denke, dass wir in dem folgenden Bibelwort Übereinstimmung haben: ‚Unsere Erkenntnis ist Stückwerk…Wenn aber kommen wird das Vollkommene, wird das Stückwerk aufhören.‘ (1.Kor 13,9)“. Dazu kann ich nur von Herzen Amen sagen.
Mark Marzinzik ist promovierter Physiker. Er erwarb seinen Doktortitel an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Seine Interessen umfassen vor allem die Naturwissenschaften aber auch die Theologie. Wenn er seine Freizeit nicht gerade mit der Familie verbringt, so vergräbt er sich liebend gerne in einen Stapel von Büchern.
Dieser Artikel ist auch als PDF-Datei erhältlich unter:
www.schoepfung-durch-evolution.de/media/Marzinzik-Wahrheit_ist_kein_Wunschkonzert.pdf